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Baubionik: Wie Architekten und Ingenieure die Natur neu entdecken

Die Natur schafft oft die belastbarsten Strukturen. Die Bionik entschlüsselt deren Prinzipien, um sie auch für Häuser und andere Bauwerke zu nutzen.

20. Februar 2019

Die Bionik folgt dem Grundsatz, Formen und Prinzipien aus der Natur technisch zu imitieren. Das hat seinen guten Grund, auch im Immobilienbereich. Während wir erst vor rund 10.000 Jahren mit dem Bau von Häusern, so wie wir sie uns heute vorstellen würden, begonnen haben, perfektioniert die Natur bereits seit Jahrmillionen Strukturen, die funktionieren – und straft dabei jeden Fehler unerbittlich ab. Es gibt also einen großen Fundus, aus dem wir uns mit genügend Fantasie bedienen können.

Das bekannteste Prinzip, das bereits kommerziell bei Immobilien eingesetzt wird, dürfte wohl der Lotuseffekt sein – kaum ein populärwissenschaftliches Magazin hat nicht schon einmal darüber berichtet. Die Oberfläche der namensgebenden Pflanze weist unzählige ultrafeine Papillen auf, die mit Wachs besetzt sind. Das minimiert die Adhäsionskräfte: Schmutz haftet nicht an der Oberfläche, ebenso wenig wie Wassertropfen, die abperlen und dabei Verunreinigungen mitnehmen. In den 1970ern entdeckt und technologisch aufgegriffen kommt das Konzept heute beispielsweise in Fassadenfarben zum Einsatz.

Bäume bieten mehr als Stämme

Auch Baustoffe, die wir seit Jahrtausenden verwenden, bieten uns noch ungeahnte Möglichkeiten. Vielleicht haben wir bisher nie so genau hingeschaut oder wir hatten einfach nicht das wissenschaftlich-technische Verständnis, um zu erkennen, wie wir die Strategien der Natur für uns aufgreifen können. Beispiel Holz: Seit Urzeiten schlagen wir Bäume, stapeln sie aufeinander und schaffen uns so Unterkünfte. Wenn ein Stamm beschädigt ist, müssen wir ihn irgendwann aufwändig austauschen. Der lebendige Baum ist da deutlich trickreicher. An Stellen, die unter starker Belastung durch die Umwelt stehen, formt er Rippen und Wülste aus. Kommt es dennoch zu Rissen, sorgt der starke Innendruck im Zellgewebe dafür, dass sofort neues biologisches Material in die Schadstellen quillt und sie so schließt. An der Uni Freiburg forscht man an diesem Prinzip zur Entwicklung eines selbstreparierenden Schaums für die luftgefüllten Membranen, die bei Hallen und Sportstadien zum Einsatz kommen.

Der Seeigel muss es wissen

Anderswo im Süden, im Studiengang Energieeffizientes Planen und Bauen der Hochschule Augsburg, erkunden Nachwuchsingenieure die Möglichkeiten, die ihnen Vorbilder aus der Natur bieten. Wer etwa wäre ein besserer stummer Experte für stabile Strukturen als der Seeigel, dessen Überleben von einem Panzer abhängt, der ihn vor Fressfeinden schützt? Aus polygonalen, ineinander verzahnten Platten entsteht in Segmentbauweise ein Pavillon, der nicht nur widerstandsfähig ist, sondern auch vergleichsweise leicht. Ein anderes Projekt orientiert sich an den natürlichen Bewegungen von Pflanzen. Mit Hilfe pneumatischer Aktoren wird so ein Verschattungssystem für komplex gekrümmte Fassaden geschaffen, das weitgehend ohne Gelenke auskommt und damit den eigenen Verschleiß minimiert.

Wachsende Architektur

Von der Natur lernen ist das eine, Wissenschaftler prüfen aber noch einen weiteren Weg: Lebendige Formen in Architektur integrieren. Im EU-Forschungsprojekt flora robotica arbeitet ein interdisziplinäres Team daran, Pflanzen mit Hilfe von computergesteuerter Beleuchtung zum Wachstum in komplexen Formen zu bewegen. Das Ziel: Eine Kolonie von Pflanzen-Robot-Hybriden, die als selbstorganisierendes System arbeiten. Die Strukturen, die dabei entstehen, sind außerordentlich. Die Idee, solche Systeme tatsächlich beim Bau von Häusern zu integrieren, wirft natürlich viele Fragen auf. Zum ersten die Wachstumsgeschwindigkeit: Es würde Jahrzehnte dauern, auf dieser Grundlage Gebäude zu errichten. Und das Pflanzenwachstum ist endlich, setzt damit also die Materialgrenze nach oben. Dennoch, derart geschaffene Formen werden sich mit ausreichendem Einfallsreichtum sicherlich im Innenausbau einsetzen lassen, und sei es als einzigartiges, dekoratives Element. Die Integration von Natur und Technologie steht noch weitgehend am Anfang, wer weiß, welche Möglichkeiten beispielsweise die Gentechnik in einem solchen System noch beisteuern kann. Schon ein wenig näher an der praktischen Anwendbarkeit ist dagegen ein Forschungsprojekt für Baubotanik an der Universität Stuttgart. Wachsende Bäume sollen dort in die Architektur eingebracht werden und zum Beispiel Träger aus traditionellem Material ersetzen oder zumindest ergänzen.