Der neue Flächenprimus Gastronomie hat das Zeug zum Retail-Motor
Bei den Neuvermietungen im Einzelhandel haben Food & Gastronomie den Spitzenplatz erobert. Solche Mieter haben das Zeug, ganze Retail-Standorte zu beleben.
Abgezeichnet hat es sich schon lange, trotzdem markiert das erste Quartal 2019 eine Art Zeitenwende für die Einzelhandelsimmobilien.
Erstmals haben Textilhändler ihren Platz an der Spitze der Retail-Neuvermietungen verloren. Der neue König des Flächenumsatzes: Food und Gastronomie mit 31.000 qm und 80 Deals vs. 28.000 qm und 68 Abschlüsse bei den Textilien. 26 Prozent Anteil an den Gesamtvermietungen vs. 24 Prozent. So negativ das für den niedergelassenen Textilhandel ist, es eröffnet auch die Chance für einen Retail-Belebungsschub insgesamt.
Gastronomie ist nämlich mehr als einfach nur ein anderer Mieter. Restaurants, Imbisse und so weiter strahlen positiv auf den benachbarten Einzelhandel ab – und zwar nachweislich. Untersuchungen haben zum Beispiel gezeigt, dass sage und schreibe 40 Prozent der Einkäufer in Shopping Centern den Standort vorwiegend auf Grundlage des Gastronomieangebots wählen.
Attraktive Gastronomie steigert Gesamtumsatz
Zugegeben, nun werden unter der neuen Top-Sparte Food und Gastronomie auch Lebensmittelhandel und Nahversorger geführt, doch die Gastbetriebe sind maßgeblich an den Vermietungsumsätzen beteiligt. „Wir beobachten derzeit einen Vormarsch der Systemgastronomie, zum Beispiel durch L’Osteria und Burgerheart“, berichtet JLL Retail-Experte Dirk Wichner. Und wo immer sich solche und andere Gastronomieanbieter niederlassen, da steigt zum Beispiel auch der Umsatz im benachbarten Einzelhandel: 15 Prozent mehr geben Menschen im Shopping Center insgesamt aus, wenn sie bei ihrem Besuch auch die Gastronomie in Anspruch nehmen. Ihre Verweildauer im Komplex steigt außerdem um mehr als ein Drittel.
Also einfach ein paar Schnellrestaurants ins Shopping Center und schon läuft alles rund? „Ganz so einfach ist die Sache natürlich nicht“, weiß Wichner. „Die Angebote müssen selbstverständlich eine gewisse Qualität zeigen und auch zur Soziodemografie des Standorts passen. Die Anforderungen und Erwartungen der Kunden in der pulsierenden City sind sicher andere als draußen in der Vorstadt oder ganz auf dem Land. Vegetarisch, deftig oder exotisch, die dominierenden Milieus im Umfeld entscheiden, welche Gastronomieangebote Erfolg versprechen.“
Alle Sinne ansprechen
Was Restaurants und Imbisse ihren Kunden bieten, ist eine Form von Erlebnis – und sei es nur, dass der Geschmackssinn angesprochen wird. Oder auch die ganze Sinnespalette bei einem gehobenen Gastronomiebesuch. Und gerade davon muss der Einzelhandel lernen, davon ist Wichner überzeugt. Der vielen Niedergelassenen übermächtig erscheinende Online-Handel kann nämlich von wenigen Ausnahmen abgesehen nur das Auge ansprechen. Und selbst das funktioniert in der räumlichen Wahrnehmung vor Ort besser. Textilien lassen sich nicht anfassen, schon gar nicht anprobieren, Lebensmittel nicht riechen, Werkzeuge kann man nicht darauf prüfen, wie sie in der Hand liegen. Eben diese Sinneserfahrungen bietet aber der niedergelassene Händler, er muss diese Stärken besser ausspielen. Im besten Fall kombiniert mit einer fachkundigen Beratung.
Das Prinzip Jahrmarkt wiederentdecken
Der Erlebnischarakter des Einkaufs kann aber natürlich noch viel weiter gehen. Stichwort Jahrmarkt: Schon seit Jahrhunderten stehen Handel, Spiel, Essen und Trinken in enger Verbindung. Dort, wo viele Menschen zusammenkommen und Freude teilen, dort wird auch viel eingekauft. Das scheint im 20. Jahrhundert etwas in Vergessenheit geraten zu sein. Die schwierige Lage im Einzelhandel könnte jetzt aber für eine Wiederentdeckung sorgen: Alternative Use, sprich, die Flächen werden mit handelsfremden Konzepten gefüllt. Was liegt also näher, als auch dabei wieder auf das Erleben zu setzen?
Mit Einfallsreichtum hohe Umbaukosten umgehen
Ob Kino und Billard oder urbane Bewegungstrends von Lasertag bis Kletterhalle, die Möglichkeiten sind ausgesprochen vielfältig. Was der Umsetzung häufig entgegensteht sind hohe Umbaukosten. Doch was ist die Alternative? Einen darbenden Retail-Standort weiter dahinsiechen zu lassen? Mit Einfallsreichtum lässt sich für die jeweilige Fläche durchaus ein passendes Freizeitangebot finden, das sich ohne allzu große Umbaumaßnahmen realisieren lässt. In einem einstöckigen Shopping Center wird man kaum eine vollständige Kletterhalle einrichten wollen – aber wie sieht es zum Beispiel bei einer mehrgeschossigen ehemaligen Retailfläche aus? Vielleicht erzielt man dort mit gezielten Deckendurchbrüchen gerade ein einmaliges Klettererlebnis? Ob sich solche Ideen immer realisieren lassen, steht natürlich auf einem anderen Blatt. Aber es ist wichtig, mit etwas Fantasie an die Sache heranzugehen – und den Blick nicht von vornherein zu verschließen.
Und im besten Fall überlegt man sich ein schlüssiges Mischkonzept von Einzelhandel, Erleben und Gastronomie, bevor man dazu gezwungen wird. Alternative Use gilt vielerorts immer noch als die wirklich allerletzte Option, wenn sich partout kein Retail-Mieter finden lässt. Dabei kann die gute Durchmischung von Leisure und Handel auch gut laufende Retail-Standorte weiter befeuern. „Angebote der Freizeitgestaltung und des Genusses sollte man nicht als Notnagel verstehen, sondern schon von Beginn an in sein Flächenkonzept einplanen“, rät Wichner.