Biodiversität betrifft auch die gebaute Umwelt
Nachhaltige Städte müssen über Dekarbonisierung und „grüne Oasen“ hinaus die biologische Vielfalt mitdenken, – ihr Verlust hat Auswirkungen auf unsere Lieferketten und die Wertentwicklung von Immobilien.
Die Immobilienbranche befindet sich in puncto Nachhaltigkeit und ESG noch mehrheitlich im „CO2-Tunnelblick“. Reduktion von Energieverbräuchen und Dekarbonisierung der Gebäude bestimmen Debatten und Regulatorik. So positiv diese Entwicklung angesichts der Mammutaufgabe Klimawandel und dem Anteil unserer Branche daran ist, klammert sie doch viele andere relevante Nachhaltigkeitsaspekte aus. Eines dieser Themen ist der Verlust an Artenvielfalt und die kritische Situation vieler Ökosysteme.
Beide Phänomene, Klimawandel und Verlust der Artenvielfalt, sind untrennbar miteinander verbunden. So basieren etwa die Szenarien für die Pariser Klimaziele maßgeblich auf einem Erhalt und Ausbau von natürlichen Treibhausgassenken wie Wäldern, Böden oder Ozeanen, die CO2 aus der Atmosphäre speichern. Leisten können diese Ökosysteme ihre Aufgabe aber nur, wenn sie intakt bleiben.
Gesunde und vielfältige Ökosysteme können die Auswirkungen des Klimawandels abmildern, indem sie z. B. Schatten und Kühlung spenden, Wasser auffangen und speichern und Ufer oder Küsten vor Erosion schützen. Leider ist der Klimawandel laut dem WEF bereits für bis zu 16 % des Biodiversitätsverlustes verantwortlich – Tendenz steigend.
Fokussieren wir uns also ausschließlich auf die Dekarbonisierung zum Brechen der heranrollenden Welle „Klimawandel“, laufen wir nicht nur Gefahr, dass uns die nächste Welle in Form kollabierender Ökosysteme überrollt – wir konterkarieren möglicherweise unsere Bemühungen zum Klimaschutz.
Das tiefgreifende Verständnis von Biodiversität muss zwingend Einzug in die Nachhaltigkeitsagenden halten, um unsere Fortschritte beim Klimaschutz nicht zu gefährden, – und auch, um kurzsichtige Fehlanreize wie die Zerstörung von Natur zum Ziele der Dekarbonisierung zu verhindern, durch Waldrodung für Photovoltaikanlagen zum Beispiel.
Biodiversität, Nature und Ökosystemdienstleistungen, oder was?
In der aktuellen ESG-Debatte wird der Begriff Biodiversität häufig als Sammelbegriff genutzt für alles, was im weiteren Sinne mit Naturschutz zu tun hat. Dabei handelt es sich wortwörtlich um die Vielfalt des Lebens und ist ein Charakteristikum der „Environmental Assets“ oder auch „Umweltgüter“, aus denen sich unsere Natur in den verschiedenen Bereichen Atmosphäre, Frischwasser, Ozeane und Land zusammensetzt. Diese „Assets“ wiederum kombinieren sich in Ökosystemen und erbringen dort bestimmte „Ökosystemdienstleistungen“ wie die Bodenrückhaltung, Lärmabschwächung, Schädlingsbekämpfung, die Bestäubung von Pflanzen oder die Bereitstellung von Biomasse und Wasser.
Biodiversität fungiert dabei als eine Art Versicherung, für den Fall, dass bestimmte Arten mit sich ändernden Rahmenbedingungen verschwinden. Sie stabilisiert die Ökosysteme und stellt sicher, dass die Ökosystemdienstleistung dennoch erbracht werden kann.
Im internationalen Kontext hören wir auch häufiger den Oberbegriff „Nature, z. B. bei der Task-Force on Nature-Related Financial Disclosures. Analog zur TCFD, wo es um Klimarisiken geht, hat diese Initiative ein Framework erstellt, wie Unternehmen über „Nature-Related Risks“ berichten und entsprechend handeln sollen. Auch die „Science Based Targets Initiative“, die vielen von CO2-Reduktionszielen bekannt sein könnte, sprechen mittlerweile von „Science Based Tagets for Nature” und darüber, wie sich Unternehmen wissenschaftsbasierte Ziele zum Thema Natur setzen können.
Die Ökosystemdienstleistungen stellen gleichwohl einen wesentlichen Mehrwert für unsere Gesellschaft und die Wirtschaft dar, z. B. größere Mengen oder bessere Qualität beim Ernteertrag, oder – auf unsere Branche bezogen – Bereitstellung von Rohstoffen wie Holz oder Kalk, ein wesentlicher Bestandteil von Zement, die für den Bau von Gebäuden benötigt werde. Sie gewährleisten eine gesicherte Wasserversorgung, sicheren Grund und Boden für Gebäude, – und lebenswerte Rückzugsräume, die unser Wohlbefinden und den Wert von Immobilien steigern.
Dies macht deutlich, dass es bei Maßnahmen für Naturschutz und Biodiversität um mehr geht als um reine CSR- oder Marketingmaßnahmen. Es geht am Ende auch um den Erhalt der wirtschaftlichen Grundlage, auf der die Immobilienwirtschaft aufgebaut ist. Laut dem World Economic Forum hängt mehr als die Hälfte des weltweiten BIP von der Natur ab.
Handlungsbedarf hoch, Regulatorik hängt hinterher
Ähnlich wie beim Klimawandel ist es auch bei der Biodiversität und der Integrität der Ökosysteme eher 5 nach 12. Forscher sind sich einig1, dass wir durch die Entnahme von zu viel Biomasse, die Zerstörung zu vieler Lebensräume und der Entwaldung zu großer Flächen den sicheren planetaren Handlungsspielraum bereits verlassen haben und mit gravierenden Folgen zu rechnen haben. Wirtschaftsvertreter des WEF platzieren den Verlust der Artenvielfalt auf Platz 4 der größten Business-Risiken der nächsten Jahre, nur getoppt von Risiken des Klimawandels. Laut einer aktuellen Studie sind weltweit rund zwei Millionen Arten gefährdet – doppelt so viele wie bislang angenommen.
Trotzdem sind Nature und Biodiversität noch zu wenig präsent in der derzeitigen ESG-Regulatorik. International gibt es mit dem Gesetz zum „Biodiversity Net Gain“ aus UK aber erste Beispiele, was mittelfristig auch auf die Immobilienbranche in Deutschland zukommen könnte. Schaut man sich die Entwicklung zu Gesetzen und verpflichtenden Standards beim Thema CO2 in den letzten Jahren an, spricht zudem viel dafür, dass heute noch freiwillige Standards wie die bereits erwähnte TNFD oder globale Abkommen wie das „Kunming Montreal Biodiversity Framework“ von 2022 zeitnah mehr und mehr zum Standard werden bzw. sich daraus nationale Gesetze ergeben, die den Handlungsdruck auf Unternehmen erhöhen.
Lebenszyklusbetrachtung auch bei Biodiversität notwendig
Doch wo stehen wir aktuell bei der Umsetzung von Maßnahmen zum Schutz oder gar der Förderung von Natur und Biodiversität in der Immobilienbranche? Bilder, die einem häufig begegnen, sind Gründächer, Bienenstöcke auf dem Dach oder „Green Interior Walls“, grüne Wände oder vertikale Gärten. Und so unbestreitbar die positiven Effekte von derlei Maßnahmen sind, mitunter weniger für die Natur als für die Gebäudenutzer, werden sie doch der Tragweite der Problematik nicht gerecht.
Ein Rechenbeispiel, was dies ganz gut veranschaulicht, kommt vom „UK Green Building Council“: In ihrer Untersuchung zum Thema „Embodied Ecological Impact“ zeigen sie auf, dass 90 % des globalen Biodiversitätsverlustes auf „Extractive Practices“, also Rohstoffgewinnung, zurückzuführen sind. 50 % dieser Aktivitäten sind der Bau- und Immobilienbranche zuzurechnen. Allerdings wird nur 1 % der Erdoberfläche für menschliche Siedlungen und Infrastruktur genutzt. Dies allein verdeutlicht, dass der immense Schaden, der zu Beginn der Wertschöpfungskette angerichtet wird, nicht in der Nutzungsphase wettgemacht werden kann – ein bisschen „urbane Begrünung“ wird das Problem nicht lösen.
Dass der Fokus auf die Nutzungsphase allein nicht ausreicht – zu dieser Erkenntnis kommen wir auch langsam beim Thema CO2, Stichwort „Embodied Carbon“ oder „graue Emissionen“. Nur durch eine ganzheitliche Lebenszyklusbetrachtung können wir die Bereiche identifizieren, wo der größte Schaden entsteht und wo wir folglich auch den größten Hebel zur Verbesserung haben.
Einer dieser großen Hebel liegt in der Projektentwicklung. Beispiele hierfür sind die Standortwahl mit der Frage nach Greenfield vs. Brownfield oder die Zergliederung von Biotopen, zudem die Reduktion von Material- und Flächenbedarf und die nachhaltige Beschaffung von Baumaterialien, idealerweise mit hohem Recyclinganteil.
Im Rahmen der weiteren Planung sollten die lokale Flora und Fauna identifiziert und bei der Flächengestaltung berücksichtigt, einheimische Pflanzen verwendet und die Flächenversiegelung minimiert werden. Systeme zur lokalen Nutzung oder Versickerung von Regenwasser, Schaffung von Wasserflächen und die Begrünung von Fassaden und Dachflächen sind weitere Einflussmöglichkeiten.
Aber auch während der Nutzungsphase, insbesondere im Hinblick auf Materialbedarfe für Sanierung und Fit-Out, aber auch im Rahmen der Grünpflege, der nachträglichen Flächenentsiegelung oder Schaffung von Nistplätzen und der Reduzierung von Licht- und Lärmverschmutzung ergeben sich Verbesserungspotenziale.
Zum Lebenszyklusende spielen die Ermittlung, sortenreine Trennung und letztlich Wiederverwendung von Baustoffen die größte Rolle, um den Bedarf an Primärrohstoffen zu reduzieren.
Integration von Biodiversität in Immobilienprojekte unumgänglich
Es gibt viel zu tun. Und das Thema ist so komplex wie vielschichtig, es lässt sich nicht auf nur eine Kennziffer wie CO2 runterbrechen. Umso wichtiger ist es, dass sich alle Akteure der Immobilienbranche mit diesem Thema vertraut machen und ihre Geschäftsmodelle auf Schnittmengen mit Nature und Biodiversität untersuchen – entlang der gesamten Wertschöpfungskette. Wo bestehen womöglich auch Abhängigkeiten vom Naturkapital, was sind wesentliche Einflussbereiche und wo lohnt es sich anzusetzen?
Biologische Vielfalt und Klimawandel hängen zusammen und verstärken sich gegenseitig. Der Immobiliensektor hat einen erheblichen Einfluss auf diesen Kontext. „Infrastruktur und die gebaute Umwelt“ gehören zu den drei sozioökonomischen Systemen, die für die Gefährdung von 79 % der bedrohten oder potenziell bedrohten Arten weltweit verantwortlich sind. Eine kollaborative und bewusste Einbindung der Natur und Biodiversität in Immobilienprojekte wird sich positiv auf Zukunftssicherung, Werterhalt und Klimaminderung auswirken, während gleichzeitig die Gesundheit, das Wohlbefinden sowie die soziale Gemeinschaft gefördert werden. Win-win-win.
Der Verlust der Biodiversität hingegen hat weitreichende Auswirkungen: von Verringerung der Produktivität von Ökosystemen, Ressourcen-, Nahrungsmittel- oder Wasserknappheit, Unterbrechungen der Lieferketten, Verzögerungen in Bauprojekten und steigenden Kosten bis hin zur Bedrohung über 50 % des globalen BIPs. Fleckenhafte „urbane Begrünung“ alleine greift nicht weit genug und der Fokus auf die Nutzungsphase ist nicht ausreichend. Nur durch eine nachhaltige Beschaffung von Baumaterialien und die Integration von Biodiversität in Bauprojekte kann diesem Trend entgegengewirkt werden.
Dies ist keine Luxusaufgabe, sondern eine Notwendigkeit. Nur so können wir den Wert von Immobilien langfristig zu schützen, die Resilienz unserer Lebensräume gegenüber dem Klimawandel stärken und das Wohlbefinden der Menschen fördern. Durch eine sektorübergreifende Zusammenarbeit kann die Immobilienwirtschaft etwas bewegen. Dies erfordert das Engagement von Investoren, Immobilieneigentümern, lokalen Behörden und Unternehmen gleichermaßen.
1 vgl. https://www.stockholmresilience.org/research/planetary-boundaries.html