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Kann der niedergelassene Einzelhandel bei der Digitalisierung mithalten?

E-Commerce hat durch die Pandemie stärkeren Rückenwind bekommen. Der Einzelhandel in den Städten wird sich bei der Digitalisierung also noch mehr anstrengen müssen.

22. Januar 2021

Keine Frage, derzeit sind die dringendsten Sorgen des Einzelhandels Corona und der neue Lockdown. Doch gerade jetzt zeigt sich, wie wichtig die Digitalisierung auch für die niedergelassenen Händler ist: Die Umsätze der reinen E-Commerce-Anbieter sind gigantisch gewachsen. Für Unternehmen ist der Online-Channel bei geschlossenen Geschäften der einzige Verkaufskanal.

Und selbst frühere Bestellverweigerer unter den Kunden haben sich nach dem auszehrenden Jahr 2020 daran gewöhnt, Waren im Internet zu bestellen. Das wird Auswirkungen auf die Handelswelt nach Covid-19 haben. Ist der deutsche Einzelhandel dafür bereit? Eine aktuelle Studie von Jll und eStrategy Consulting hat sich den digitalen Reifegrad der Niedergelassenen angeschaut. Und das nicht nur Online. Auch am Point of Sale (POS), also in den Geschäften selbst, schreitet die Technisierung voran.

Ohne Sichtbarkeit kein Verkauf

Dennoch, gerade im Wettbewerb mit den ausschließlichen Online-Händlern verläuft die vielleicht entscheidende Front im Internet: Wer nicht gefunden wird, bei dem wird auch nicht eingekauft. Online-Sichtbarkeit war daher das erste Kriterium in unserer Digitalisierungsstudie. Hier ist der niedergelassene Einzelhandel bereits gut aufgestellt. 94 Prozent der untersuchten Händler verfügen über eine Website für das lokale Geschäft, 87 Prozent bieten ihre Waren per Webshop an.

Im Bereich einer eigenen Internet-Präsenz ist das Engagement besonders stark. Alternative Wege, im Netz auf sich aufmerksam zu machen, werden dagegen noch zögerlich genutzt. Dazu gehören etwa Google My Business oder Google Inventory Ads. Und ein wenig scheint der Handel in der Welt des Desktop-PCs und Macbooks stehen geblieben zu sein. Mobile First jedenfalls ist noch lange nicht die Devise der Retailer: Eine Shopping-App betreiben gerade einmal 42 Prozent von ihnen. „Damit verzichten Einzelhändler auf das erhebliche Potenzial, das solche Apps als Outbound-Kanal eröffnen. Nicht zuletzt im Bereich maßgeschneiderter Kundeninformation verfügen reine E-Commerce-Anbieter noch über deutlich mehr Expertise, von der die niedergelassenen Händler viel und schnell lernen sollten “, erklärt Josefine Ulrich, JLL Team Manager Central Retail Leasing.

Mit dem Höchstwert bei der Online-Sichtbarkeit, dem Reifegrad 10 auf dem Studienindex, punkteten höchst unterschiedliche Anbieter: Beispielsweise aus dem Sport- und Bekleidungssegment Sportscheck (Köln) und Adidas (Berlin), die Juwelierkette Christ in Hamburg und Rewe, ebenfalls in Köln. All diese Niederlassungen verfügen über lokal orientierte Webseiten, Webshops sowie Shopping-Apps und verfolgen darüber hinaus online weitere Marketingmaßnahmen für die entsprechenden Filialen. Mit dieser Strategie platzierten sie sich weit vor dem Studienmittel 6,2.

Nachholbedarf bei Omnichannel

Weit schlechter mit einem Durchschnitt von 3,7 präsentiert sich der deutsche Einzelhandel beim Zusammenspiel von Online- und realer Welt, das in der Studienkategorie Omnichannel-Features im Fokus stand. Am weitesten verbreitet – aber immer noch bei nur 46 Prozent der Teilnehmer – ist die Online-Verfügbarkeitsprüfung der Waren in der lokalen Niederlassung. Rund vier von zehn Anbietern ermöglichen die Rückgabe bestellter Ware im Geschäft bzw. die Online-Bestellung in die Filiale zur Abholung. Dagegen bieten nur 21 bzw. 16 Prozent Click & Reserve und Click & Collect. Dahinter könnte der vergleichsweise hohe Aufwand stecken, solche Systeme erst einmal zu etablieren, mit einer im Vergleich eher geringeren Bedeutung für die Kunden. Den höchsten Reifegrad 10 bei den Omnichannel Features erzielten Christ (Hamburg), Thalia (Stuttgart) sowie Peek & Cloppenburg und der Innenausstatter Depot in verschiedenen Städten.

Pandemie bringt kontaktloses Bezahlen voran

In den Geschäften selbst schreitet die Digitalisierung vor allem bei den Bezahlvorgängen voran. Mobile Payment, ob per Smartphone oder Karte (also ohne Einstecken), bieten 91 Prozent der untersuchten Filialen. Corona hat hier eine Entwicklung vorangetrieben, die bereits zuvor von steigenden rechtlichen Anforderungen an die Kassensysteme angestoßen wurde.

Wo keine solchen Zwänge vorherrschen, ist der Handel allerdings noch nicht besonders weit. Digitale Displays für Werbung oder Produktinformation kommen nur bei 42 bzw. 36 Prozent der Studienteilnehmer zum Einsatz. Informationen über das Geschäft selbst, etwa im Bereich der Navigation, werden digital fast ausschließlich in größeren Läden vermittelt, insgesamt in weniger als jeder zehnten Filiale. Beratung, Services und Entertainment spielen eine noch geringere Rolle. Doch auch hier dürfte E-Commerce den Erwartungsdruck erhöhen. „Bereits jetzt erweitern viele Online-Händler das Kundenerlebnis zum Beispiel durch produktbezogene Videoinformationen. Schon vor der Bestellung erhalten potenzielle Käufer so einen realitätsnahen Eindruck von den entsprechenden Produkten und ihren Einsatzmöglichkeiten. Vor Ort bleibt Kunden dagegen meist nur der Blick auf die Verpackung – und die Demonstration durch Verkäufer im Laden ist oftmals aufwändig und damit teuer. Ein erweitertes digitales Informationsangebot macht daher auch in einem POS-Verkaufskonzept Sinn“, so Dirk Wichner, JLL Head of Retail Leasing Germany.

So erreicht der deutsche Einzelhandel in der Kategorie digitale Kundenerfahrung am Point of Sale nur einen durchschnittlichen Reifegrad von 3. Leuchttürme sind Saturn und der Elektronikhändler Conrad in Berlin, die neben Informationsleistungen auch verschiedene Transaktionsvorgänge automatisiert anbieten.

Conrad in der Hauptstadt belegt in der Kategorie digitale Kundenbindung ebenfalls einen Spitzenplatz mit Reifegrad 10. In derselben Liga spielen hier Uniqlo und Hugendubel (Berlin), WMF in Köln und Stuttgart, sowie Tchibo in Hamburg. Durchschnittlich erreicht der niedergelassene Einzelhandel in diesem Bereich, der App, Kundenkarte und Newsletter umfasst, den Reifegrad 3,3.

Insgesamt wurde für die 755 untersuchten Einzelhandelsgeschäfte in den deutschen Big 7-Städten ein digitaler Reifegrad von 3,7 festgestellt. Zum Höchstwert 10 bleibt also noch viel Luft. Und Tempo ist nötig, denn der Vorsprung, den sich reine E-Commerce-Anbieter 2020 erarbeitet haben, dürfte im Rückblick gewaltig ausfallen.

Aniko Korsos

Head of Retail Leasing, Germany

Josefine Ulrich

Director EMEA Retail Leasing Strategy & Operations