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Nearshoring macht Lieferketten resilienter

Angesichts der Pandemie arbeitet die Logistikbranche daran, Lieferketten stabil und widerstandsfähig zu gestalten, um die kontinuierliche Versorgung der Menschen auch in Krisenzeiten sicherzustellen.

18. Mai 2022

Kaum noch verfügbare Logistikflächen, generelle Personalknappheit, zu hohe Lager- und weiter steigende Energiekosten stellen die Branche vor fundamentale Herausforderungen. Sarina Schekahn, Head of Industrial Leasing Germany bei JLL, bringt ein Hauptproblem auf den Punkt: „Grund und Boden ist nicht vermehrbar. Man kann die vorhandene Fläche nur besser und effizienter nutzen. Mit rund 8,67 Millionen Quadratmetern wurde zudem 2021 auf dem deutschen Markt für Lager- und Logistikflächen ein neuer Vermietungsrekord aufgestellt. Das ist im Vergleich zum Vorjahr eine Steigerung von 25 Prozent. Damit erhöht sich der Druck auf die wenigen verfügbaren Flächen zusätzlich.“  

Das setzt Lieferkettenmanager weltweit unter Druck: Über 90 Prozent investierten zwar während der Corona-Krise in ihre Lieferketten, um diese widerstandsfähiger gegen externe Störungen zu machen. Öfter als geplant, griffen Supply Chain-Manager zu Direkt-Maßnahmen wie beispielsweise verbesserter Software oder kurzfristig umsetzbare Produktionsverlagerungen, um die Lagerbestände zeitnah zu erhöhen. Weniger häufig als erwartet, setzten sie auf langfristigere Effekte, indem sie ihre Zuliefererbasis regionalisierten. Aus den Trends zusammen mit der Entwicklung, die Produktion von Gütern wieder näher an die Verteilzentren und die Empfänger heran zu holen, ist Nearshoring in den Fokus gerückt.  

Nearshoring beschreibt Standortausbau im benachbarten Ausland

Nearshoring ist eine Sonderform des Offshorings. Als Nearshoring wird die direkte Produktion in der Nähe eines Absatzmarktes bezeichnet. Aus deutscher Sicht ist meist eine Verlegung in osteuropäische Länder gemeint. Demgegenüber steht das Offshoring als Verlagerung ins entfernte Ausland. Häufige Zielregionen sind so zum Beispiel Asien und Südamerika.

Die Motivation für Nearshoring ist unterschiedlich: Steigende Energiepreise bedeuten hohe Transportkosten, was eine stärkere regionale Ausrichtung der Logistik begünstigt. Vor allem der deutsche Industriemittelstand leidet darunter. Die Unternehmen bekommen selbst weniger Vorprodukte oder – wie vor allem beim Beispiel Energie – nur zu sehr hohen Preisen. Zugleich können sie die Kostensteigerungen nur teilweise an ihre Kunden weitergeben. Auch die eigene Lieferkette wird durch Verzögerungen gestört.

Hersteller verlagern Produktion näher an Vertrieb

Einige Hersteller verlagern ihre Produktion deshalb im Rahmen ihrer Effizienzsteigerung näher an die Distributionslager. Speziell Bekleidungsunternehmen denken auch über Nearshoring nach. Hintergrund sind die Vorlaufzeiten für Modezyklen, die von mehreren Monaten auf wenige Wochen reduziert wurden. Kein Händler möchte aktuelle Herbstmode erst im Winter geliefert bekommen. „Die Modebranche hat sich bereits vor langer Zeit von der traditionellen Frühjahrs-/Herbstkollektion abgewandt hin zu Zwischen- und Sonderkollektionen und damit zu einem sich ständig drehenden Bestand, was das Überdenken bestehender historischer Vertriebsnetze nötig macht“, erläutert Schekahn. „Um die Lieferwege zu verkürzen, sollte mehr über das Prinzip einer regionalen Modeproduktion und neuer Regionalmarken nachgedacht werden. Das Label ‚Made in Germany‘ wird immer noch und immer mehr als Qualitätsmerkmal gewertet“, so Sarina Schekahn.

Ein Kooperationspartner von JLL, Miebach Consulting, Experten für nachhaltige Lieferketten, beschäftigt sich ebenfalls aktuell mit den Gründen, die zu mehr Nachfrage nach Nearshoring führen: „Besonders im Bereich Mode, jedoch auch in anderen Branchen, macht uns der Fachkräftemangel in Europa zu schaffen. Die gesamte Modeproduktion ist lange konsequent nach Asien verlegt worden. Der Aufbau qualitativer Fachkräfte in Europa ist daher eine der großen Herausforderungen“, beschreibt Timo Willberger, Business Development Manager bei Miebach, die Herausforderungen. Als große Vorteile des Nearshorings sieht er im Ergebnis, dass die allgemeine Volatilität, wie sie durch eine Pandemie oder einen Krieg entsteht, besser abgefedert werden kann. Bei einer konsequenten Verkürzung, einer längeren und fragilen Lieferkette, wird diese automatisch resilienter. Ein wesentlicher Vorteil einer Nearshoring-Strategie bestehe auf jeden Fall in ihrer höheren Nachhaltigkeit im Vergleich zum Offshoring.

Lange Lieferketten haben den Nachteil, dass sie anfälliger für Störungen sind. Der Krieg in der Ukraine verschärft die Probleme in den Lieferketten der Weltwirtschaft erheblich. Schon in der bundesweiten Konjunkturumfrage der Industrie- und Handelskammer zu Jahresbeginn meldeten 84 Prozent der deutschen Industriebetriebe mittlere bis erhebliche Lieferschwierigkeiten. Die bereits vor dem Krieg bestehenden Probleme nehmen weiter zu. Daher ist ein Ziel der Lieferanten und Logistiker, schlankere Lieferketten aufzubauen. Gut organisiertes Nearshoring kann also Versorgungsengpässe bei besonders kritischen Bauteilen vermeiden – sofern sich ein passender Lieferant in der Nähe befindet.

Nach der jüngsten Krise ist vor der nächsten Krise

Über Jahre haben sich Lieferketten zu einem hochfrequenten und leicht anfälligen Gebilde entwickelt. Dadurch sind die Lieferketten aktuell nicht resilient genug, um künftige Unterbrechungen zu verhindern. Für Unternehmen kann das Nearshoring der Lieferanten deshalb mittel- bis langfristig ein Faktor darstellen, um krisenfester zu werden. Daneben sind Ausbau und Nutzung digitaler Technologien weitere zentrale Kriterien für resiliente Lieferketten. Stärkere Datenanalysen, Portfoliobereinigungen, Standortanalysen und neue Technologien sind alles Teile des Bestrebens, Lieferketten zu stärken und insgesamt schlanker, agiler und profitabler werden zu lassen. Es besteht ein starker Handlungsdruck. Massive Störungen der Lieferkette treten durchschnittlich alle 3,7 Jahre auf. Sie bringen Lieferketten mindestens einen Monat lang durcheinander, analysiert die McKinsey-Studie. 

Hohe Flexibilität weiter sehr gefragt 

„Für die meisten Unternehmen ist die größte Kostenstelle ihre Supply Chain, da sie von der Beschaffung über die Produktion bis hin zum Vertrieb alles abdeckt“, sagt Sarina Schekahn. Fazit: Logistikdienstleister müssen ihre Services auf die neuen Bedingungen und Trends abstimmen. Sei es mit dem Management langer Transportketten oder der zeitkritischen Nahversorgung. So lassen sich Lieferketten auf die jeweiligen Anforderungen der Märkte fein einstellen. Nearshoring wird Offshoring nicht ablösen – aber sinnvoll ergänzen.

Für Produktionsunternehmen gilt es künftig, den richtigen Standortmix – auch im Sinne von Kunden und Abnehmern – zu finden. Besonders erfolgreiche Unternehmen, die diesen Status künftig weiter erhalten wollen, werden nach neuen Wegen suchen müssen, um die Lieferkette zu optimieren. Als wichtiger Baustein kommt dazu noch die Dekarbonisierung der Lieferkette im Rahmen von Nearshoring weiter voran zu treiben. In letzter Konsequenz müssen auch Verbraucher mit ihrem Einkaufsverhalten den Trend stützen. Es braucht die Bereitschaft, für hochwertige Produkte aus der Region auch den entsprechenden Preis bezahlen zu wollen. 

 

Sarina Schekahn

Head of Industrial & Logistics Agency Germany

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