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Einzelhandel und Hospitality brauchen jetzt Mut zum Experiment

Die Krise fordert von Retail und Hotels mehr Einfallsreichtum als je zuvor. Nur Flexibilität wird viele Flächen retten können – und Innenstädte, die wieder als Erlebnisräume funktionieren.

12. Oktober 2020

Mit Ausnahme der Nahversorger hat die Pandemie keine Branchen härter getroffen als den niedergelassenen Einzelhandel, die Hotels und die Gastronomie. Doch gerade im Retail-Bereich stand es um viele Betroffene schon vor der Krise nicht zum Besten. Für sie wird es jetzt überlebenswichtig, in neuen Konzepten zu denken. Und auch die Hotellerie wird nach Covid-19 nicht einfach zum Vorkrisenstatus zurückkehren können.

Für Iris Schöberl, Managing Director BMO Real Estate Partners, ist ein umfassendes Bekenntnis zur Flexibilität der Kern aller Rettungskonzepte. Und die fordert sie von allen Seiten ein. Politik, Verwaltung, aber auch dem Einzelhandel selbst. „Viele gehen bereits neue Wege, darunter auch kleine Händler in ländlichen Regionen, die ihre Flexibilität ausspielen – aber längst nicht alle“, so ihre Einschätzung. Gerade im Pop-up-Segment sieht Schöberl noch viele Chancen.

Flexibilisierung schafft lebendige Innenstädte

Pop-up-Stores sind auch als Inkubator für langfristige Angebote denkbar, als Experimentierfeld, die sich mit anhaltendem Erfolg als dauerhafte Geschäfte etablieren können. Doch vielfach werden solche Innovationen ausgebremst, zum Beispiel durch lange Genehmigungsverfahren oder von Behörden, die Interimslösungen stellenweise sogar pauschal ablehnen. Dabei könnten Pop-up-Stores oder andere mutige Flexibilisierungen die Lebendigkeit und Aufenthaltsqualität in den Städten deutlich erhöhen. Gerade dort, wo man in der Vergangenheit durch hohe Filialisierungsgrade höchst austauschbar geworden ist – und damit letztlich unattraktiv.

Der Handel wird sich rasant weiterentwickeln und statt vollgepackter Fläche künftig das bieten, was der Online-Handel eben nicht kann: Kauferlebnis und Unterhaltung und dabei alle Sinne ansprechen.

Sabine Eckhardt, CEO Central Europe, JLL

Die Attraktivität der Innenstädte und Einkaufsmeilen ist auch Dr. Marcus Meyer, CEO Central und Northern Europe bei Lacoste, ein Anliegen. Strategisch sieht er noch viel Nachholbedarf im Einzelhandel. Man solle nicht von einem Extrem ins andere fallen. Dort, wo früher eine regelrechte Eröffnungseuphorie herrschte, teilweise mit einer Übersättigung von Filialen derselben Anbieter, sei jetzt nicht online allein der Königsweg. Auch Digitalisierung im Handel müsse richtig eingesetzt werden. Es gelte, den Konsumenten zu verstehen, zu wissen, über welche Kanäle man ihn inspirieren kann – und nicht die Filialen nun schlicht mit Bildschirmen vollzuhängen.

Einkaufserlebnis umfassend denken

Inspiration ist etwas, das sich die Einkaufsmeilen insgesamt auf die Fahnen schreiben müssen. Alle reden von Erlebnisqualität, aber oft wird die nicht umfassend genug gedacht. Ein einzelner Händler kann schwerlich zum alleinigen Erlebnisanbieter werden, Aufenthaltsqualität entsteht im Zusammenspiel mit dem Umfeld. Ein attraktiver Einzelhandelsmix mit Gastronomie und Freizeitangeboten statt uninspirierter Filialen-Schlange. Diverse, lebendige Innenstädte eben, denn die Menschen werden nach den Monaten der Isolation nur allzu bereit sein, sich auf neue Erfahrungswelten einzulassen.

Erwartungen an die Hotellerie wandeln sich

Sich neu erfinden, daran kommen auch viele Hotels nicht vorbei. Die grundsätzliche Reisebereitschaft wird sicher zurückkehren, doch die Erwartungen haben sich verändert. Menschen reisen bewusster, vielleicht weniger, und speziell Business-Angebote bleiben von der jüngst etablierten Remote Working- und digitalen Conferencing-Kultur nicht unberührt. Viele Dienstreisen werden auch in Zukunft durch digitale Kommunikationslösungen ersetzt. Auch die Hospitality-Branche ist also gezwungen, viele einst bewährte Konzepte zu überdenken.

Martina Maly-Gartner, COO Arabella Hospitality, warnt entsprechend davor, in einer Wartehaltung zu verharren und fordert innovatives Handeln. „Auch Pop-Up Wohnen oder Pop-Up Büro müssen möglich und schnell umsetzbar sein, ohne dass dies von den Behörden erschwert wird.“ Zum Beispiel bringen viele Hotelgrundrisse für das Konzept Mikrowohnen ideale Voraussetzungen mit. Ebenso könnten Hotelkapazitäten für Schulungszwecke, Co-Working und den medizinischen Bereich genutzt werden.