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Urbane Logistik bietet nachhaltige Chancen für Städtebau und Handel

Der stetig wachsende Online-Handel stellt die Städte und die Logistik der Letzten Meile auf die Probe. Neue Konzepte für Warenverteilung und Lagerflächen müssen her.

01. Juni 2021

Spätestens die Pandemie hat die Deutschen zu Online-Bestellern gemacht. Im vergangenen Jahr ist der Bruttoumsatz im Internet-Handel noch einmal um 14,6 Prozent gewachsen. Doch gerade dieser Erfolg wird zunehmend zur Herausforderung für die Branche. Knappe Flächen in den Städten, der urbane Straßenverkehr und immer restriktivere Umweltauflagen in vielen Zentren.

Und nicht nur E-Commerce bedarf der Distribution, auch der traditionelle niedergelassene Handel benötigt seine Anlieferungen. Wie schaffen es die Städte also, die wachsenden Anforderungen an ihre Infrastruktur zu meistern? „Der Online-Handel sorgt für Anreize, den Städtebau nachhaltig zu verändern. Es bieten sich neue Chancen, Bestandsimmobilien zu revitalisieren, den Lieferverkehr durch einen intelligenten Nutzermix zu optimieren und die Lebensqualität zu steigern“, erklärt Simon Melchert, Consultant Urban Logistics bei JLL. Dazu werden aber zunächst einmal mehr Flächen für Mikro Hubs benötigt. Dort erfolgt der Umschlag von Paketen auf umweltfreundliche und emissionsarme Zustellfahrzeuge. Um eine ganze Stadt derart zu beliefern, sind mehrere dieser dezentralen Lager notwendig.

Entsprechende Strategien werden bereits von den E-Commerce-Vorreitern verfolgt, wie Marcel Reinhardt, Global Head Supply Chain Financing von Miebach Consulting erläutert: „Die wichtigsten Akteure der städtischen Distribution warten nicht untätig ab und haben bereits neue Projekte in Angriff genommen, mit denen sie nicht nur auf die steigenden E-Commerce-Anforderungen reagieren, sondern auch bevorstehende Umwelt- und Verkehrsbeschränkungen antizipieren.“

Andere Unternehmen verharren allerdings vielfach in traditionellen Strukturen, bedingt auch durch die Erwartungen ihrer Kunden. In der Lebensmittelbranche zum Beispiel bevorzugt der städtische Verbraucher Läden in der Nähe seines Wohnorts und tätigt dort kleinere Einkäufe. Dies zwingt großen Ketten dazu, sich vor allem in den Großstädten auf strategische Lagen zu konzentrieren. Für diese Unternehmen würde ein weiteres Glied in der Lieferkette die Logistikkosten erhöhen, während die Nutzung kleinerer Transportmittel wie Elektrofahrzeuge oder Fahrräder nicht mit dem Gewicht und Volumen der Sendungen vereinbar wäre. Ähnliches gilt für den Bereich Hotels und Restaurants. Gewicht und Volumen der Getränkelieferungen erfordern Fahrzeuge einer bestimmten Größe, Elektrofahrzeuge bieten noch nicht die Kapazität und Autonomie, um die herkömmlichen Liefermethoden zu ersetzen.

Umnutzung von Einzelhandelsflächen ist komplex

Doch gibt es in den Städten überhaupt genügend verfügbare Flächen für die neuen Logistikkonzepte, selbst wenn man die Umnutzung notleidender Retail-Immobilien berücksichtigt? „Die Frage nach der Flächenverfügbarkeit bewegt sich unter anderem zwischen den Polen Baurecht und Wirtschaftlichkeit. Bei jeder Umnutzung, bei jedem Neubau muss geprüft werden, was sich mit welchem Aufwand realisieren lässt. Dabei spielt auch eine Rolle, dass herkömmliche Logistikfläche meist weit geringere Mieten erzielen als Einzelhandelsimmobilien“, so Melchert. Investoren und Eigentümer fürchten teilweise eine Abwertung ihrer Objekte bei der Vermietung an Urban Logistics-Akteure, die ihrerseits die hohen Retail-Mieten nicht zahlen können. Am Ende wird sich also nicht jede urbane Fläche für eine Umnutzung eignen.

Wenn allerdings leerstehende oder nicht optimal genutzte Flächen für Urban Logistics umgenutzt werden können, sind Eigentümer kompromissbereiter. Das betrifft nicht nur die Miethöhe, sondern auch die Konditionen, denn E-Commerce ist eine Branche, die nicht zuletzt von Flexibilität lebt. Entsprechend werden geringe oder flexible Vertragslaufzeiten nachgefragt. Die allerdings scheuen Eigentümer traditionell, denn Risiko und Nachvermietungsaufwand sind hier nicht zu unterschätzen. Und das wird wiederum mit einem höheren Mietzins kompensiert.

Trotz solcher Schwierigkeiten gibt es derzeit eine erhöhte Nachfrage durch Startups, was urbane Lagerplätze betrifft. „Zunächst wollen diese Unternehmen Marktmacht erlangen. Die Corona-Pandemie hat diesen Trend sicherlich angetrieben. Für die neuen Player geht es zunächst um Masse, Masse, Masse – über die nachgelagerten Logistikfragen macht man sich weniger Gedanken. Intuitiv bieten sich kleine Lagerflächen in Stadtnähe an, um Endkunden in weniger als zehn Minuten beliefern zu können“, so Reinhardt. Solche Lagerflächen der letzten Meile können z. B. abgetrennte Bereiche in Parkhäusern sein oder leerstehende Immobilien in Innenstadtnähe. Doch auch diese neuen Last-Mile-Hubs müssen erst einmal beliefert werden. Die nachgelagerte Logistik von regionalen Verteilzentren stellt neue Anforderungsprofile, etwa kleinere Ordermengen oder die Feinverteilung in die Stadt. Regionallager müssen sich also auf kleinere Auftragsendungen einstellen, mit Implikationen für die intralogistische Planung.

Bedarf an höherwertigen Logistikflächen wird steigen

Die höheren Anforderungen dürften auch zu einer weiteren Aufwertung der Assetklasse Logistik führen, die ohnehin schon in den kommenden Jahren vom Außenseiter zum begehrten Investmentfeld aufgestiegen ist. „Solche Immobilien gibt es künftig weniger von der Stange, sondern viel stärker auf den Nutzer zugeschnitten. Objekte mit besserer Bausubstanz, nachhaltigen Technologien und mit Berücksichtigung neuer Trends wie Mehrgeschossigkeit. Zusammen mit dem knappen Angebot wird das die Spitzenmieten antreiben“, prognostiziert Melchert.

In diesem Umfeld werden sich nur die stärksten E-Commerce-Player am Markt behaupten können. Zusätzliche Lagerstufen erhöhen die Kosten und können mitunter nur über Skalierung abgefedert werden. „Die neuen E-Commerce-Unternehmen wie auch die traditionellen Food-Retailer sollten sich Gedanken darüber machen, wie sie gemeinsam mit ihren Lieferanten kollaborieren können.  Die neuen Order-Profile werden sich bis zu großen FMCG- und auch Fashion-Produzenten durchsetzen“, erklärt Reinhardt. In der Zusammenarbeit ließe sich ein sinnvolles Kosten-Nutzen-Verhältnis austarieren, von denen alle beteiligten Branchen profitieren könnten.

Viel grundsätzlicher ist aber die Akzeptanzfrage, wie Reinhardt glaubt: „Wir wollen mehr Lieferungen zu Hause, schneller und häufiger, aber das hat einen wirtschaftlichen und ökologischen Preis. Einen Preis, den niemand so recht zahlen will. Noch gibt es nur wenige Marktsektoren und Unternehmen, die sich für ein wirklich neues Modell der städtischen Verteilung entschieden haben, das die durch Umweltschutzpolitik verursachte Einschränkungen vollständig berücksichtigt.“ Doch der Druck der europäischen, nationalen und kommunalen Verwaltungen wird Herstellern, Distributoren und Logistikunternehmen irgendwann keine andere Wahl lassen. Tempo und Richtung dieses Wandels werden von der technologischen Entwicklung, den Regulierungsbehörden und natürlich von den Verbrauchern selbst diktiert.